Angst verstehen: Warum sie so mächtig ist und wie du lernen kannst, sie zu beruhigen
Angst gehört zu den Gefühlen, die unser Leben am stärksten beeinflussen können. Das tut sie zunächst oft, ohne dass wir es bewusst merken. Sie kann uns lähmen, klein machen oder uns davon abhalten, Dinge zu tun, die wir eigentlich wollen. Gleichzeitig ist Angst ein völlig normales und wichtiges Gefühl. Sie schützt uns und ist ein Teil unseres menschlichen Überlebensprogramms.
Doch was passiert eigentlich in uns, wenn Angst entsteht? Und wie kannst du lernen, sie zu verstehen, statt ihr ausgeliefert zu sein?
In diesem Artikel erfährst du:
- warum Angst ein natürlicher Teil unseres Lebens ist
- wie verdeckte und offene Angst wirken
- was in deinem Körper bei Angst geschieht
- welche Rolle dein Nervensystem spielt
- wie das Window of Tolerance uns hilft, Angst zu regulieren
- und wie du dich selbst besser regulieren kannst, wenn Angst dich überwältigt
Angst – ein normales Gefühl mit starker Wirkung
Angst ist zunächst einmal eine Emotion wie jede andere. Sie gehört zu unserem biologischen Erbe und schützt uns. Ohne Angst würden wir achtlos über Straßen laufen oder gefährliche Situationen übersehen. Sie warnt uns und sorgt dafür, dass wir schnell reagieren.
Problematisch wird es erst, wenn Angst zu stark, zu häufig oder in Situationen auftritt, die eigentlich ungefährlich sind. Dann beginnt sie, unser Leben zu bestimmen. Möchtest du mehr darüber erfahren, wie du deine Ängste nachhaltig überwinden kannst? Dann schau auch hier vorbei: Angst nachhaltig überwinden

Offene und verdeckte Angst
Viele Menschen denken bei Angst an Panikattacken, Zittern, Herzrasen oder das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Das ist die offene Form von Angst. Sie ist spürbar, greifbar, überwältigend.
Daneben gibt es die verdeckte Form: Angst, die wir gar nicht als solche erkennen. Sie zeigt sich als Sicherheitsbedürfnis, Perfektionismus, Kontrollverhalten oder der Versuch, immer alles richtig zu machen. Auch das ist Angst, sie ist nur besser getarnt.
Wer seine Angst nicht wahrnimmt, sucht oft im Außen nach Gründen für sein Unwohlsein: „Die anderen sind schuld“ oder „Die Situation ist einfach schlecht“. Das ist verständlich, aber es verhindert, dass wir erkennen, was in uns selbst passiert.
Verdeckte Angst hält uns klein. Sie lässt uns in Beziehungen bleiben, die uns nicht guttun, in Jobs, die uns auslaugen oder in Routinen, die uns vom Leben fernhalten. Sicherheit fühlt sich dann zwar angenehm an, kann uns aber gleichzeitig vom Wachstum abhalten.
Was bei Angst im Körper passiert
Angst ist immer auch ein körperliches Phänomen. Unser Gehirn reagiert auf mögliche Gefahren mit einem „schnellen Weg“: Es handelt, bevor wir überhaupt nachdenken können. Das war in der Evolution überlebenswichtig. Heute sorgt es manchmal dafür, dass wir auch in harmlosen Situationen in Alarmbereitschaft geraten.
Herzklopfen, Enge im Hals, Magenziehen oder weiche Knie sind dabei ganz normale körperliche Reaktionen. Doch viele Menschen deuten diese Empfindungen als Zeichen von Gefahr und geraten dadurch noch mehr in Panik.
Manche meiner Klientinnen vermeiden deshalb alles, was im Körper Aufregung auslöst: Abenteuer, neue Situationen, manchmal sogar Verliebtheit. Häufig liegt dahinter die frühe Erfahrung, dass starke Gefühle „zu viel“ waren. Vielleicht, weil die eigenen Eltern selbst überfordert waren und unbewusst vermittelt haben: „Du störst, deine Gefühle sind jetzt fehl am Platz, bleib lieber ruhig.“
Mehr zum Thema der Körper in der Psychotherapie findest du im Blog.
Das Window of Tolerance – dein inneres Gleichgewicht
Ein besonders hilfreiches Modell, um Angst und Stress zu verstehen, ist das Window of Tolerance (Toleranzfenster). Es beschreibt den Bereich, in dem dein Nervensystem stabil und flexibel bleibt: Du bist wach, spürst dich, kannst denken, fühlen, Entscheidungen treffen. Kurz: du bist im Kontakt mit dir selbst und der Welt.
Wenn die innere Aktivierung zu stark wird, verlässt du dieses Fenster:
- Übererregung (Hyperarousal): Herzklopfen, Panik, Wut, Fluchtimpulse. Dein Körper ist im Alarmmodus, oft noch bevor du die Situation bewusst einschätzen kannst.
- Untererregung (Hypoarousal): Erschöpfung, Leere, emotionale Starre oder Dissoziation. Dein System schützt sich, indem es abschaltet.
Ganz wichtig: Gesunde Regulation bedeutet nicht, dass du nie wieder Angst hast, sondern dass du immer wieder zurück in dein Fenster findest. Es ist ein absolut verständlicher Wunsch, dass die Angst einfach weg sein soll. Sie schränkt dein Leben vielleicht gerade auf verschiedenste Art und Weise ein, aber sie hat immer auch eine Schutzfunktion, die für uns Menschen überlebenswichtig ist. Deshalb geht es in der Therapie meines Erachtens nicht darum, die Angst verschwinden zu lassen sondern sie auf ein gesundes Maß zu reduzieren, so dass du dein Leben wieder frei und glücklich genießen kannst.
Aus hypnosystemischer Sicht ist das Window of Tolerance übrigens kein starres Modell, sondern ein inneres Erlebensspektrum, das sich durch Sicherheit, Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit erweitern lässt. Jedes Mal, wenn du bewusst wahrnimmst, dass Angst da ist und trotzdem handlungsfähig bleibst oder dich selbst beruhigst, vergrößerst du dein Toleranzfenster.
Angst ist kein Feind, sie ist ein Signal dafür, dass dein Nervensystem gerade Schutz braucht. Weitere Tipps zur Nervensystemregulation und die 5 häufigsten Missverständnisse findest du hier: Nervensystem regulieren
Wenn Angst mit Trauma zu tun hat
Häufig liegen hinter übermäßiger Angst frühe Erfahrungen oder Traumata. Ein Trauma entsteht, wenn wir als Kind oder Erwachsene etwas erleben, das uns hilflos macht, dem wir ausgeliefert waren und das uns vollkommen überfordert hat. Wir konnten nicht handeln, nicht entscheiden, nicht fliehen. Diese Erfahrung speichert sich tief im Nervensystem ein.
Das Gegenteil von Angst ist Selbstwirksamkeit. Das Gefühl: „Ich kann etwas tun, ich habe Einfluss.“ Wer dieses Gefühl in der Kindheit nicht lernen konnte, kann es später wieder aufbauen. Das braucht Zeit, Geduld und oft auch Begleitung, ist aber möglich. Im Blogartikel über Vermeidung gehe ich darauf ein, wie du Stück für Stück wieder zu mehr Selbstwirksamkeit finden kannst.
Je stärker dein Gefühl von Selbstwirksamkeit wird, desto weniger Macht hat die Angst über dich.
Was du tun kannst, wenn die Angst dich überrollt
Angst lässt sich nicht einfach „wegmachen“. Sie sollte sich aber in einem Rahmen bewegen, der dich dein Leben leben lässt und nicht einschränkt. Die gute Nachricht: Du kannst lernen, ihr anders zu begegnen. Diese fünf Schritte können dir dabei helfen:
- Beobachte deine körperlichen Signale
Meist kündigt sich Angst körperlich an, bevor sie bewusst da ist. Zum Beispiel durch flacheren Atem, Enge oder Herzklopfen. Wenn du das bemerkst, bleib innerlich aufmerksam: „Aha, da ist Angst.“ Schon das Wahrnehmen verändert etwas. - Atme langsam und bewusst
Ein ruhiger Atem beruhigt das Nervensystem. Ideal sind etwa 5–6 Atemzüge pro Minute. Oder probiere die Boxatmung: 4 Sekunden einatmen – 4 halten – 4 ausatmen – 4 halten. Weitere Atemübungen findest du z.B. HIER - Fühle deinen Körperkontakt
Spüre deine Füße am Boden, dein Gewicht auf dem Stuhl. Das lenkt die Aufmerksamkeit weg vom Kopf in den Körper und signalisiert Sicherheit. - Übe Selbstwirksamkeit im Alltag
Notiere dir am Abend, was du heute beeinflusst oder geschafft hast. Und hier gilt: Jeder Schritt zählt, egal wie klein er ist. Das stärkt dein Vertrauen in dich selbst. - Erlaube dir, über Angst zu sprechen
Angst verliert an Macht, wenn sie geteilt wird. Rede mit Menschen, denen du vertraust und frage auch sie, was ihnen Angst macht.
Fazit: Angst ist keine Schwäche und kein Fehler
Sie ist ein Teil von dir. Einer, der dich eigentlich schützen will. Wenn du lernst, sie zu verstehen und ihr Raum zu geben, verwandelt sie sich: aus einem Gegner in einen Wegweiser.
Je besser du dich regulieren kannst und je stärker dein Window of Tolerance wird, desto weniger bestimmt Angst dein Leben. Und desto mehr Platz entsteht für Ruhe, Vertrauen, Freude und Lebendigkeit.
Wenn du mehr Übungen und Wissen rund um Panik, Ängste und Selbstregulation haben möchtest, melde dich gern zu meinem Newsletter an oder buche ein kostenloses Kennenlerngespräch über Doctolib. Gemeinsam werfen wir einen Blick auf verschiedenen Wege raus aus der Angst und entdecken Möglichkeiten, die genau zu dir passen und dein Nervensystem langfristig stärken können.
Du musst da nicht alleine durch, gemeinsam schaffen wir das.







