Die eine Wahrheit
In einer Welt, die zunehmend von Unsicherheit, unterschiedlichen Perspektiven und einer Flut an Informationen geprägt ist, sehnen sich viele nach der einen, universellen Wahrheit. Doch was bedeutet es eigentlich, wenn wir von „Wahrheit“ sprechen? Warum gibt es keine absolute Wahrheit, die für alle gilt? Und warum wäre es doch so schön, wenn es sie gäbe? In diesem Blogartikel versuche ich, diese Fragen zu beleuchten und zu zeigen, dass unsere Vielfalt an Wahrnehmungen eine Stärke ist, die uns aber auch vor Herausforderungen stellt.
Ein bisschen Theorie vorab.
Die Frage nach der Wahrheit ist so alt wie die Menschheit selbst. Philosophen, Wissenschaftler und Theologen haben sich über Jahrtausende hinweg mit ihr beschäftigt. Oft wird dabei zwischen zwei Arten von Wahrheit unterschieden: der objektiven und der subjektiven Wahrheit.
Die objektive Wahrheit bezieht sich auf Fakten, die unabhängig von menschlichen Überzeugungen oder Emotionen existieren. Anhand eines Beispiels wird es schnell deutlich: Die Schwerkraft wirkt unabhängig davon, ob wir sie „fühlen“ oder verstehen, auf uns alle. Diese Art von Wahrheit ist universell und lässt sich oft durch wissenschaftliche Methoden beweisen.
Die subjektive Wahrheit hingegen bezieht sich auf persönliche Überzeugungen, Gefühle und Perspektiven. Wenn ich zum Beispiel sage: „Für mich ist die Natur, der Strand und das Meer der schönste Ort der Welt“, ist das meine subjektive Wahrheit. Sie gilt nur für mich und kann von jemand anderem völlig anders empfunden werden.
Doch selbst bei objektiven Wahrheiten wird es schwierig. Je tiefer wir in wissenschaftliche und philosophische Fragen eintauchen, desto mehr erkennen wir, dass auch unsere Beobachtungen und Messungen von Interpretationen geprägt sind. Die Quantenphysik zeigt beispielsweise, dass die Beobachtung eines Ereignisses dieses beeinflussen kann. Die Grenzen zwischen objektiv und subjektiv verschwimmen also mehr und mehr.

Verschiedene Versionen der Realität
Unsere moderne Welt ist komplex, und die Informationsflut, der wir täglich ausgesetzt sind, macht es noch schwieriger, eine klare Trennlinie zwischen richtig und falsch zu ziehen. Soziale Medien, Nachrichten und Algorithmen präsentieren uns verschiedene Versionen der Realität, abhängig davon, in welchem Teil der Welt wir leben, welchem politischen Lager wir angehören oder welche persönlichen Erfahrungen wir gemacht haben.
Zwei Menschen können die gleiche Situation vollkommen unterschiedlich interpretieren. Beide Personen sind überzeugt, dass ihre Wahrnehmung die richtige ist und beide haben gute Gründe für ihre Ansichten. Doch es gibt nie nur eine Wahrheit, nie nur die eine wirklich wahre Wirklichkeit. Es gibt immer nur das eigene individuelle Erleben.
Unsere „Wahrheiten“ beruhen nicht nur auf Fakten, sondern auch auf Emotionen, Erfahrungen und sozialen Prägungen. Die Vielzahl an Perspektiven führt zu Konflikten, Missverständnissen und manchmal sogar zu Verzweiflung – besonders, wenn wir von anderen erwarten, unsere Wahrheit als die einzig gültige anzuerkennen.

Warum es schön wäre, wenn es die eine Wahrheit gäbe.
Trotz der Erkenntnis, dass es keine absolute, für alle gültige Wahrheit geben kann, gibt es einen tiefen Wunsch danach. Dieser Wunsch entspringt dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Klarheit. In einer Welt voller Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten wäre es beruhigend, eine unveränderliche Wahrheit zu haben, an der wir uns festhalten können.
Stellen wir uns doch einmal ganz kurz vor, es gäbe sie. Die eine Wahrheit. Streitigkeiten könnten gelöst werden, Missverständnisse würden verschwinden und Menschen könnten harmonischer miteinander leben. In einer Welt mit einer einzigen, unumstößlichen Wahrheit wären wir möglicherweise weniger anfällig für Manipulation, Desinformation und die Angst vor dem Unbekannten. Aber wäre das wirklich wünschenswert?

Die Schönheit der Vielfalt
So verlockend die Idee einer einzigen Wahrheit auch ist, wir sollten die Schönheit und den Wert der Vielfalt nicht übersehen. Dass es keine eine Wahrheit gibt, eröffnet uns die Möglichkeit, die Welt aus vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Es fordert uns heraus, empathisch zu sein, andere Standpunkte zu verstehen und unseren eigenen Horizont zu erweitern. In Beziehungen – und darum geht es ja in der systemischen Beratung schlussendlich – ist es essenziell, sich seiner eigenen Wirklichkeit bewusst zu werden. Um dann den anderen in seiner Wahrheit besser sehen zu können, ohne sich in der eigenen Wahrheit bedroht zu erleben.
Die Vielfalt an „Wahrheiten“ bereichert uns als Gesellschaft. Sie fördert Kreativität, Innovation und Anpassungsfähigkeit. Unterschiedliche Meinungen und Ansichten sind die Basis für Fortschritt. Wäre alles festgelegt und klar, gäbe es keine Notwendigkeit für kritisches Denken, für Diskussionen und für das Hinterfragen unserer Überzeugungen.
Fazit
Es bleibt die Erkenntnis, dass es nie die eine Wahrheit geben kann. Unser Erleben und Verstehen der Welt ist durch unzählige Faktoren geprägt und jede Wahrheit ist ein Produkt unserer individuellen Erfahrungen. Doch genau das macht das Leben auch so reich und spannend.
Den Wunsch nach Klarheit und Wahrheit sollten wir jedoch nicht einfach so beiseiteschieben. Dieser Wunsch treibt uns an zu lernen, zu wachsen, unsere Mitmenschen besser zu verstehen und unser Verständnis von der Welt immer wieder zu erweitern. Auch wenn wir wissen, dass es nie die eine, absolute Wahrheit geben wird: Wir können uns selbst und anderen auf der Suche nach ihr näherkommen – und ist das nicht die schönste Wahrheit von allen?
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